Sehr geehrter Herr Richter,
mit größtem Interesse habe ich das Gespräch zwischen Ihnen und einem Unfallopfer verfolgt. Was mich jedoch irritiert: sie haben regelmäßig apodiktisch
(Anmerkung: eine apodiktische Aussage ist eine Aussage, deren Gegenteil unmöglich wahr sein kann, da der Beweisgrund eine allgemein anerkannte unumstößliche Wahrheit ist) versucht Grundsätze darzulegen, die in sich sicherlich richtig sein mögen. Dennoch konnte ich nicht erkennen, dass - um auf den Ausgangsfall von Hase und Igel zurückzukommen - die von Ihnen dargestellten Grundsätze ausreichend sind, um zu einer Einheit von tatsächlicher Wahrheit und sogenannter
"prozessualen Wahrheit" zu gelangen.
Juristen sagen:
"Die Wahrheit einer Behauptung/Tatsache ist zu ermitteln"
Die Ermittlungsmöglichkeiten eines Gerichts in Form von Sachverständigenbeweis, in Augenscheinnahme, Parteivernehmung, Urkundsbeweis oder Zeugenbeweis sind Ihnen sicherlich besser bekannt als mir. Aber dennoch: Sachverständige gibt es auf vielen Fachgebieten. Juristen sagen selber:
"Ich bin Richter, übe damit die Profession des Rechts aus, medizinische Fragestellung fallen daher nicht in mein Fachgebiet, weshalb ich auf
Gehilfen in Form von Sachverständigen angewiesen bin." "98% aller Rechtsangelegenheiten sind Tatsachenprobleme, keine Rechtsfindungs-
probleme. Der Richter hat das Recht der freien Beweiswürdigung. Die somit geschaffene Prozessuale Wahrheit ist Grundlage der
Rechtsanwendung." [Quelle: FH Trier, Prof. Dr. Hans-Jürgen Görg, Vorlesungsskript "P R I V A T R E C H T - Computer- und Onlinerecht von Christian Bettinger, WS 2007/08, http://www0.fh-trier.de/~bettingc/data/grundlagen/Privatrecht.pdf ]
Wie können Sie denn eigentlich beurteilen, ob z.B. bei einer HWS-Distorsionsverletzung mit Kopfgelenksbeteiligung eher
- der Unfallchirurg oder
- der Orthopäde oder
- der Chirurg oder
- der Rehabilitationsmediziner oder
- der Algesiologe oder
- der Neurologe oder
- der Zahnarzt oder
- der Neuropsychologe oder
- der HNO-Arzt oder
- der Radiologe oder
- der Psychosomatiker oder
- der Psychotraumatologe oder
- der Psychiater
der geeignete Gehilfe des Gerichts ist? Kann nicht allein durch subtile unvollständige oder mangels besserem Wissen falsche Auswahl der
beauftragten Gehilfen die
tatsächliche Wahrheit zu einer gerichtseigenen Wahrheit, nämlich der prozessualen Wahrheit verzerrt werden? Können Sie in allen Verfahren eine Identität zwischen tatsächlicher und prozessualer Wahrheit beweisen? Ich spreche jetzt noch nicht einmal die bereits aufgezeigten "Marketingmaßnahmen" und Einflussmöglichkeiten der konstanten Prozesspartei auf die "herrschende Meinung" an.
Ich möchte aber auf eine wichtige Aussage von Ihnen zurückkommen:
"Ich bin Richter, übe damit die Profession des Rechts aus"
Herr Richter, ich stelle mir momentan schon die etymologische Frage
(Anmerkung: Etymologie ist die Lehre der Herkunft und Geschichte von Wörtern): hat "richten" etwas mit Recht und Wahrheit zu tun gerade wenn durch das "Rechtssystem an sich" Abweichungen zwischen der tatsächlichen und prozessualen Wahrheit zugelassen werden und die Beweiswürdigung eine bekanntermaßen äußerst individuelle Angelegenheit ist? Aber hierzu später mehr. Sie könn(t)en also, wenn Sie woll(t)en, aber Sie müssen nicht....
Sie wenden jetzt ein:
"Der weitere Rechtsweg steht jedem Bürger zur Verfügung. Und spätestens ein Urteil des BGH ist zumindest für die OLG´s richtungsweisend"
Herr Richter, jetzt gucke ich Ihnen mal ganz tief in die Augen und frage sie, ob Ihnen die Prozessdauer bis zum BGH bekannt ist (habe bei Personenschäden von 10 Jahren und mehr gehört, aber da können Sie mich sicherlich korrigieren), und wieviele NICHT-konstante Prozessparteien diesen Weg - sei es aus körperlichen, psychischen oder finanziellen Gründen - beschreiten können, dürfte wohl eine absolute Minderheit sein.
Bitte bedenken Sie: die NICHT-konstante Prozesspartei hat einen körperlichen und/oder psychischen Schaden erlitten, der sie aus ihrem gesamten sozialen Umfeld inkl. regelmäßigem Erwerbsleben reißt, ergo resultieren daraus mindestens die o.g. Einbußen. Die konstante Prozesspartei dagegen bildet spätestens bei Klageeinreichung eine bilanzielle Rückstellung des eingereichten Schadens, wobei sie diesbezüglich sogar mit Steuerfreiheit belohnt wird, zinsgünstige Anlage der Rückstellung dabei nicht zu vergessen! Ihnen ist doch sicherlich bekannt, dass zumindest KFZ-Haftpflichtversicherer ohne diese Rückstellungen tief in der Verlustzone säßen, oder?
Oder kurz formuliert: die konstante Prozesspartei profitiert - bereits auf finanzieller Ebene - von langen Prozessdauern, wohingegen die
NICHT-konstante Prozesspartei durch lange Verfahrensdauern entweder in den finanziellen und/oder körperlich-psychischen Ruin getrieben wird.
Hat das Alles mit Recht und Gerechtigkeit zu tun?
Herr Richter, ich möchte daher auf die von mir vorhin angesprochenen etymologischen Aspekte zurückkommen.
Sie sagen, dass ein Richter die Profession des Rechts ausübt, also einfach ausgedrückt "Recht spricht". Aber ist diese Aussage eigentlich
eindeutig und etymologisch richtig, auch wenn sie allgemein akzeptiert sein mag?
Hängt das Wort "Richter" nicht auch sehr eng mit dem Verb "richten" zusammen? "Richten" gehört ja sicherlich zu Ihrem "daily business" , oder
würden Sie dem widersprechen?
Suche ich nun in Herkunftswörterbüchern, finde ich diverse Erläuterungen zu diesem Wort "richten" inklusive einer Vielzahl von Präpositionen.
Es finden sich z.B. Wortformen wie
-
richten, im Sinne von "gerade biegen"
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er-richten im Sinne von "aufbauen"
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ver-richten im Sinne von "ausführen, erledigen", aber warum wird dann "verrichten" nicht dann auch in dem Sinne verwandt, dass etwas nicht "nicht gerade gebogen" werden konnte, bzw. nach der Ver-richtung schiefer war als zuvor bzw. auf dem Gebiet des Rechts ein falsches Urteil gesprochen wurde?
-
an-richten, sowohl im Sinne "etwas aufbereiten", als auch im Sinne von "etwas (negatives) anstellen", z.B. ein Unglück anrichten
-
ent-richten im Sinne von Bezahlung
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ab-richten im Sinne von Erziehung/Formung von Verhaltensweisen eines Hundes, Ausübung einer Gehorsamkeitserziehung
-
zu-richten im Sinne von "Aufbearbeitung", genauso aber der "Schadenszufügung"
Was ist jetzt "richt-ig"? Wird durch einen Richter
- Recht gesprochen, also biegt er etwas gerade, was vielleicht auch krumm ist,
- etwas er-richtet, nämlich eine prozessuale Wahrheit, die etwas mit der tatsächlichen Wahrheit zu tun haben kann, aber nicht muß
- ver-richtet er etwas (erledigt etwas oder spricht einen falschen Richterspruch),
- richtet er etwas an, (sei es die Aufbereitung der tatsächlichen Wahrheit oder Schaffung einer sogenannten prozessualen Wahrheit)
- wird die konstante Prozesspartei zur Ent-richtung verdonnert,
- ab-ge-richtet, also eine der Prozessparteien zum Gehorsam gezwungen oder funktioniert das Prinzip der Abrichtung anders herum: die konstante Prozesspartei richtet den Richter ab, in dem sie ihm ihren Willen aufzwingt und/oder
- wird die NICHT-konstanten Prozesspartei im wahrsten Sinne des Wortes zu-ge-richtet?
Herr Richter, ich freue mich auf Ihre Antworten!
P.S. besten Dank an Ariel für die Inspiration