Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren
Vom [Datum der Ausfertigung] Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das folgende Gesetz beschlossen:
Artikel 1 Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes
Das Gerichtsverfassungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. Mai 1975 (BGBl. I S. 1077), zuletzt geändert durch ... , wird wie folgt geändert:
1. Nach § 197 wird folgende Überschrift eingefügt:
„Siebzehnter Titel Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren“. 2. Nach der Überschrift des Siebzehnten Titels werden die folgenden §§ 198 bis 201 eingefügt:
„§ 198 (1) Wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird entschädigt. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten.
(2) Für einen Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, kann Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß Absatz 4 ausreichend ist. Hat ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert, wird ein Nachteil im Sinne des Satzes 1 vermutet. Die Entschädigung hierfür beträgt 100 Euro für jeden vollen Monat der Verzögerung. Ist der Betrag gemäß Satz 3 nach den Umständen des Einzelfalls unbillig, kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen.
(3) Entschädigung erhält ein Verfahrensbeteiligter nur, soweit er die Dauer des Gerichtsverfahrens gerügt hat (Verzögerungsrüge). Die Verzögerungsrüge kann erhoben werden, sobald Anlass für die Besorgnis besteht, dass ein Abschluss des Verfahrens in angemessener Zeit gefährdet sein könnte, frühestens jedoch nach Beendigung eines Vorverfahrens. Sind Umstände für die Verfahrensdauer von Bedeutung, die noch nicht in das Verfahren eingeführt worden sind, muss die Rüge hierauf hinweisen. Anderenfalls werden sie von dem Gericht, das über die Entschädigung zu entscheiden hat (Entschädigungsgericht), bei der Bestimmung der angemessenen Verfahrensdauer nicht berücksichtigt. Verzögert sich das Verfahren in einem höheren Rechtszug weiter, bedarf es einer erneuten Verzögerungsrüge.
(4) Wiedergutmachung auf andere Weise ist insbesondere möglich durch Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war. Die Feststellung setzt keinen Antrag voraus. Sie kann in schwerwiegenden Fällen neben der Entschädigung ausgesprochen werden; ebenso kann sie ausgesprochen werden, wenn Voraussetzungen des Absatzes 3 nicht erfüllt sind. Die Feststellung ist vom Gericht im elektronischen Bundesanzeiger bekannt zu machen, wenn der Betroffene dies innerhalb eines Monats nach Rechtskraft der Entscheidung des Entschädigungsgerichts beantragt. Sie bezeichnet das Verfahren, dessen Dauer unangemessen war, nur durch Angaben zum erkennenden Gericht und zu Art und Datum der verfahrensabschließenden Entscheidung.
(5) Eine Klage zur Durchsetzung eines Anspruchs nach Absatz 1 kann frühestens drei Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden. Sie muss spätestens ein Jahr nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung, die das Verfahren beendet, oder einer anderen Erledigung des Verfahrens erhoben werden.
(6) Im Sinne dieser Vorschrift ist 1. Gerichtsverfahren jedes Verfahren von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss einschließlich eines Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und zur Bewilligung von Prozess oder Verfahrenskostenhilfe sowie eines Vorverfahrens, soweit dieses Voraussetzung für die Anrufung des Gerichts ist; ausgenommen sind Verfahren vor den Verfassungsgerichten und das Insolvenzverfahren nach dessen Eröffnung; im eröffneten Insolvenzverfahren gilt die Herbeiführung einer Entscheidung als Gerichtsverfahren; 2. Verfahrensbeteiligter jede Partei und jeder Beteiligte eines Gerichtsverfahrens mit Ausnahme der Verfassungsorgane, der Träger öffentlicher Verwaltung und sonstiger öffentlicher Stellen, soweit sie nicht in Wahrnehmung eines Selbstverwaltungsrechts an einem Verfahren beteiligt sind.
§ 199 (1) Für das Strafverfahren einschließlich des Verfahrens auf Vorbereitung der öffentlichen Klage findet § 198 nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen Anwendung.
(2) Während des Verfahrens auf Vorbereitung der öffentlichen Klage tritt die Staatsanwaltschaft an die Stelle des Gerichts; für das Verfahren nach Erhebung der öffentlichen Klage gilt § 198 Absatz 3 Satz 5 entsprechend.
(3) Hat ein Strafgericht oder die Staatsanwaltschaft die unangemessene Dauer des Verfahrens zugunsten des Beschuldigten berücksichtigt, ist dies eine ausreichende Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Absatz 2 Satz 1; insoweit findet § 198 Absatz 4 keine Anwendung. Begehrt der Beschuldigte eines Strafverfahrens Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer, ist das Entschädigungsgericht hinsichtlich der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer an eine Entscheidung des Strafgerichts gebunden.
§ 200 Sind an dem Gerichtsverfahren Gerichte verschiedener Rechtsträger beteiligt, gelten die Vorschriften der §§ 421 bis 426 des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend. Für den Ausgleich im Innenverhältnis sind die Anteile der beteiligten Gerichte an der Verfahrensdauer maßgeblich. Hat ein Gericht die Verfahrensverzögerung nicht mit verursacht, bleibt sein Anteil für den Ausgleich unberücksichtigt. § 201
(1) Zuständig für die Klage auf Entschädigung ist das Oberlandesgericht, in dessen Bezirk der Rechtsträger seinen Sitz hat. Die Vorschriften der Zivilprozessordnung über das Verfahren vor den Landgerichten im ersten Rechtszug sind entsprechend anzuwenden. Eine Übertragung auf den Einzelrichter ist ausgeschlossen. Gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts findet die Revision nach Maßgabe des § 543 Absatz 1 Nummer 1, Absatz 2 der Zivilprozessordnung statt.
(2) Das Entschädigungsgericht kann das Verfahren aussetzen, wenn das Gerichtsverfahren, von dessen Dauer ein Anspruch nach § 198 abhängt, noch andauert. In Strafverfahren, einschließlich des Verfahrens zur Vorbereitung der öffentlichen Klage, hat das Entschädigungsgericht das Verfahren auszusetzen, solange das Strafverfahren noch nicht abgeschlossen ist.
(3) Besteht kein Entschädigungsanspruch, wird aber eine unangemessene Verfahrensdauer festgestellt, hat die beklagte Partei die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. War der geltend gemachte Entschädigungsanspruch unverhältnismäßig hoch, entscheidet das Gericht über die Kosten nach billigem Ermessen.“
Artikel 4 Änderung des Sozialgerichtsgesetzes
Dem § 202 des Sozialgerichtsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. September 1975 (BGBl. I S. 2535), das zuletzt durch … geändert worden ist, wird folgender Satz angefügt: „Die Vorschriften des 17. Titels des Gerichtsverfassungsgesetzes finden entsprechende Anwendung.“
Artikel 5 Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung
In § 173 der Verwaltungsgerichtsordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 19. März 1991 (BGBl. I S. 686), die zuletzt durch … geändert worden ist, wird nach Satz 1 folgender Satz eingefügt: „Die Vorschriften des 17. Titels des Gerichtsverfassungsgesetzes finden entsprechende Anwendung.“
Artikel 16 Übergangsvorschrift Dieses Gesetz gilt auch für Verfahren, die bei seinem Inkrafttreten bereits anhängig oder abgeschlossen sind, sowie für Verfahren, deren Dauer zum Zeitpunkt des Inkraftretens dieses Gesetzes Gegenstand von anhängigen Beschwerden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist. Auf Verfahren, die bei Inkrafttreten des Gesetzes abgeschlossen sind, ist § 198 Absatz 3 des Gerichtsverfassungsgesetzes nicht anzuwenden. Für anhängige Verfahren, die bei Inkrafttreten des Gesetzes schon verzögert sind, gilt § 198 Absatz 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes mit der Maßgabe, dass die Verzögerungsrüge unverzüglich nach Inkrafttreten erhoben werden muss. In diesem Fall wahrt die Verzögerungsrüge einen Anspruch nach § 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes auch für den vorausgehenden Zeitraum. Auf Verfahren, deren Dauer Gegenstand von Beschwerden vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist, finden § 198 Absatz 3 und Absatz 5 keine Anwendung.
Artikel 17 Inkrafttreten Dieses Gesetz tritt am Tag nach der Verkündung in Kraft.