Also alphacharlie, ich muss Dir insoweit Recht geben, als dass es für den Grad der Behinderung weniger auf die Diagnose ankommt, als vielmehr wie stark sich diese im Alltag konkret auswirkt. Grundsätzlich lässt sich in den letzten Jahren zunehmend beobachten, dass es für Betroffene immer schwerer wird, zu einem angemessenen GdB zu kommen. Es gibt zum Teil Anweisungen an die dortigen Sachbearbeiter, höhere GdBs herunterzustufen bzw. Anträge auf einem GdB 50 + erst einmal abzulehnen. Erfahrungsgemäß haben viele dann nicht die Kraft in ein Widerspruchsverfahren geschweige denn in ein Klageverfahren zu gehen. Wenn man aber zum Ziel kommen will, muss man da durch. Ohne Widerspruch ist es heutzutage fast unmöglich zu einem halbwegs angemessenen GdB zu kommen. Zumindest in meinem Bundesland und nach meiner Erfahrung.
Ich habe im Bekanntenkreis mehrere Personen mit schwereren psychiatrischen Diagnosen (schwere Depressionen, generalisierte Angststörung PTBS, bipolare Störung, Schizophrenie) dabei noch weitere körperliche Beschwerden (Schäden der Halswirbelsäule ect). Diese sollten alle mit einem GdB von 30-40 % abgespeist werden. Jeder dieser Betroffenen hatten neben einer schweren psychischen Erkrankung noch körperliche Diagnosen. Das ist für eine schwere Depression alleine ein Witz ungeachtet der zusätzlichen körperlichen Beschwerden. Ich habe in meinem Bekanntenkreis die Widersprüche verfasst und zumindest damit noch ein GdB von 50 % erreicht, was eigentlich aber auch noch zu wenig ist. Aber immerhin. Den Betroffenen ging es vorwiegend darum, auf 50 % zu kommen. Es gibt mittlerweile eine Vielzahl von Urteilen, womit sich zumindest mit der "alleinigen" Diagnose einer schweren Depression theoretisch ganz einfach ein GdB von 50 % erreichen lässt. Es ist alles nur eine Frage der Argumentation und der Darstellung der Auswirkungen im Alltag.
Ich muss hier aber auch ganz deutlich sagen, dass zumindest in den Fällen, die ich im Bekanntenkreis habe, die behandelnden Ärzte mit dafür verantwortlich sind, dass zunächst kein höherer GdB erreicht wurde. Wenn ich in einem Fall helfe, ist es wichtig, alle ärztlichen Gutachten zu kennen, die Grundlage für die GdB-Einstufung waren. Wenn also ein sogenannter Erstbescheid über eine Einstufung des GdB vorliegt, rate ich immer dazu, zunächst "nur" einen Widerspruch zur Fristwahrung einzureichen ohne Begründung. Dann hat man erst mal einen Fuß in der Tür und es können keine Fristen verstreichen. Vor der Formulierung der Widerspruchsbegründung sollte man Akteneinsicht nehmen bzw. sich alle vorliegenden Gutachten einmal ansehen. Dabei habe ich schon haarsträubende Dinge erlebt. Man füllt ja im Vorwege so ein Formular aus, in dem alle Ärzte die einen behandeln aufgelistet sind. Ich habe es schon erlebt, dass davon nur einer oder auch keiner überhaupt zur Stellungnahme aufgefordert wurde. Dann muss man sich ansehen was an ärztlichen Stellungnahmen vorliegt. Da habe ich auch schon haarsträubendes gesehen. Es mag zum Teil daran liegen, dass die behandelnden Ärzte entweder keine Ahnung haben, was erforderliche Angaben sind oder schlicht keine Lust haben, konkret etwas dazu zu schreiben. Ich habe schon gesehen, dass einfach deren private Aufzeichnungen von vor 2 Jahren (nicht aktuell!) kopiert wurden. Nach dem Motto: Frau X war am 05.07.2021 hier und klagte, dass durch die Pflege ihrer schwerbehinderten Tochter überlastet sei. Bitte? Wo ist die Diagnose? Wie äußerst sich die Überlastungen und wie wirkt sich das auf die Funktionsfähigkeit im Alltag aus? Keine Angaben dazu. Oder ich habe im Fall einer schweren psychischen Erkrankung gelesen: Frau Y geht es zur Zeit ganz gut. Sie war gerade im Urlaub in Y und fühlt sich wesentlich besser. Keine Rede davon, dass der Urlaub nur 2 Wochen gedauert hat und sich ansonsten der Zustand überhaupt nicht verändert hatte und der Flug und das Zusammensein mit Anderen nur mit sehr starken Beruhigungstabletten überstanden wurde. Wenn man dann bei 30-40% landet, darf man sich nicht wundern.
Also mein Weg: Ich bitte die Personen selbst mir zu schildern, welche Probleme sie haben (z. B. generalisierte Angststörung) und wie sich das im Alltag auswirkt (Haus kann nicht allein verlassen werden, man kann nicht alleine einkaufen, keine Arzt Termine wahrnehmen ect.) Das schildere ich im Widerspruchsverfahren und verweise dann auf entsprechende Rechtsprechung, wie dieser medizinische Sachverhalt juristisch einzuordnen ist. Die behandelnden Ärzte erhalten eine Kopie des Widerspruchs und sollen dann auf Anforderung dazu Stellung nehmen und das ggf. bestätigen, soweit sie das können/wollen. Das ist nach meiner Erfahrung der einfachste Weg der zum Erfolg führt. Die meisten Ärzte, mit denen ich es zu tun habe, haben zu wenig Zeit und zu wenig Erfahrung, um von sich aus die Dinge vorzubringen auf die es bei der Festsetzung des GdB ankommt.
Weiterhin empfehle ich weniger ein Klageverfahren anzustrengen, als eine Erhöhung des GdB mit Verschlechterungsanträgen durchzusetzen. Einfach weil ein Klageverfahren zu lange dauert und man am Ende nicht weiß, was dabei heraus kommt. Ich kann aber jederzeit einen Verschlechterungsantrag stellen, wenn sich mein Krankheitsbild verschlechtert und dieser Zustand mindestens 6 Monate andauert oder ich eine neue zusätzliche Diagnose habe, die ebenfalls mindestens 6 Monate durchgehend besteht und den Gesamtzustand beeinträchtigt/beeinflusst. Das dauert zwar etwas aber irgendwann kommt man dann voran.
Leider muss ich auch sagen, dass es heutzutage schon schwer ist mehr als 50 % herauszuholen. GdBs von 80-100% sind sehr schwer zu erreichen und das klappt kaum auf Anhieb. Gerade bei psychiatrischen Diagnosen, wo das Leiden nicht auf den ersten Blick erkennbar ist, ist das nicht einfach. Ich habe immer noch den Eindruck, dass psychiatrische Leiden nicht ernst genug genommen werden. Sobald man optisch auf den ersten oberflächlichen Blick als normaler Mensch wahrgenommen wird, gehen viele davon aus, dass es so schlimm nicht sein kann.
Ich habe lange gebraucht, meinen Mann auf 100 % zu bekommen, obwohl er deutliche körperliche Schäden hat. Das ging ab 60 % auf Anhieb in 10 % Schritten, bis wir auf 100 % waren. Da muss man leider meistens Geduld haben. Insoweit ermutige ich dran zu bleiben und nicht aufzugeben. Ich bin mir bewusst, dass es schwerste psychische Schädigungen gibt, die einen GdB von 80-100% rechtfertigen, aber ich muss leider sagen, dass der Weg dorthin nach meiner Erfahrung noch schwerer ist als im Falle körperlicher Schäden. Ich will Dich aber nicht entmutigen, sondern nur aufzeigen, dass der Weg kein leichter ist. Er ist aber machbar. Dranbleiben und dann über immer weitere Verschlechterungsanträge nach oben schrauben...